Schöffling Verlag
Am Beginn des großen Epochenromans „Effingers“ der Schriftstellerin und Gerichtsreporterin Gabriele Tergit steht ein Brief. Es ist das Jahr 1878 und der siebzehnjährige Paul Effinger schreibt an seine Eltern in der süddeutschen Provinz vom großen Aufschwung. Er berichtet von seinen Erlebnissen als Arbeiter in der rheinländischen Industrie. Später geht er nach Berlin, wird Fabrikant, produziert die Effinger-Motoren und heiratet in die großbürgerliche Familie Oppner ein. Es ist die neue Zeit und der „Fortschritt“ die Losung der Stunde!
Am Ende des Romans schreibt der nun einundachtzigjährige Paul Effinger an seine Enkel, wünscht ihnen dass sie alle Schrecken überstehen mögen. Es ist das Jahr 1942, er wartet auf seine Deportation. Seine Fabrik ist nun ein Rüstungskonzern der Nazis.
Zwischen diesen beiden Briefen entfalten sich siebzig Jahre deutscher Geschichte von der Kaiserzeit, über den ersten Weltkrieg und Weimarer Republik bis zum Aufstieg der NSDAP und dem 2. Weltkrieg. Die Mitglieder der jüdischen Familien Oppner, Goldschmidt und Effinger bilden das Figurenarsenal, ihre Verwobenheit die immerwährende Konstellation des Romans. In ihnen spiegeln sich die kulturellen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse wie auch die Denkgebäude der Zeit.
Paul Effinger ist ein rechtschaffener Kaufmann, den Idealen von Sparsamkeit und Ehrlichkeit verpflichtet. Sein Schwiegervater hatte noch in der Revolution 1848 gekämpft. Seine Tochter Lotte und seine Nichte Marianne hören Vorträge in den Frauenverbänden und sehen sich dem Sozialismus und später dem Zionismus nah.
Tergits Epos gleicht einer Drehbühne mit offenen erzählerischen Räumen, in denen jedes Schicksal seinen Platz bekommt. Tergit setzt harte Schnitte, komponiert schnelle Dialoge. Doch die Momente des Lebens – das sonntägliche Familienessen, das erste Verliebtsein, die pompöse Heirat, der Abschied von einem geliebten Menschen – werden bewahrt, vor allem in den konkreten Dingen: in Interieur, Kleidung, Accessoires, Architektur, Speisen, Kunst, dem Berliner Stadtbild.
Nichts ist hier bloße Kulisse. Es ist eine versunkene Welt, die vor dem lesenden Auge wieder auflebt und am Ende doch in Schutt und Asche liegt. Es ist ein großes Verdienst des Schöffling Verlages dieses Stück jüdisch-deutscher Geschichte – gespiegelt in eindrucksvoller Literatur – wieder erlesbar gemacht zu haben. tw
904 Seiten
€ 28,00
Ab September 2020 im Tachenbuch für € 14,00
Rowohlt Verlag
Vincenzo Arcadipane, piemontesischer Kommissar mit Potenzproblemen und unkontrollierbaren Weinkrämpfen, wird zu einem Massengrab gerufen, das auf der Neubaustrecke des Schnellzugs entdeckt wurde, doch wird er des Falls schneller enthoben als er ein Lakritzbonbon lutschen kann. Kurzerhand werden die Skelette als Kriegsopfer deklariert und sämtliche Beweisstücke eingezogen. Arcadipane ist skeptisch und wendet sich an seinen alten Chef Bramard, der aus der italinischen Geschichte heraus eigene Ideen zu den Hintergründen hat.
Als junger Polizist wurde er in den bleiernen Jahren der 1970er und 1980er in die politische Abteilung berufen und muss sich nun erneut mit den Zusammenhängen und Auswirkungen dieser Zeit auseinandersetzen, die bis in die Gegenwart reichen. Gemeinsam mit einer kalt gestellten jungen Kollegin schaffen Arcadipane und Bramard es, etwas Licht in die Geschichte zu bringen. Den politischen Verwicklungen stehen die privaten Probleme der Männer gegenüber, die von den Frauenfiguren mit Witz, Muße und Skurrilität konfrontiert werden.
Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen und experimentiert mit den Leseerwartungen, indem er beispielsweise mehrere Prologe einschiebt. Dennoch ist man sogleich im Geschehen, da Davide Longo so eindringlich erzählt, dass man direkt auf der ersten Seite mit dem Kommissar und seinem Team im Regen steht und einem die Nässe durch die Kleidung dringt.
Zudem ist der Roman eine interessante Annährung an die jüngere, noch immer nicht aufgeklärte, Geschichte Italiens.
410 Seiten
€ 22,-
Aus dem amerikanischen Englisch von Nikolaus Stingl
Zu Beginn des Romans sitzt Adam Gordon, ein redegewandter Highschool-Absolvent, eigentlich romantisch, mit seiner Freundin in einem Boot, hält ihr eine Rede und merkt nicht, wie sie ihm buchstäblich entgleitet. Sie verlässt das Boot und schwimmt an Land, was ihm erst auffällt, als er seinen Vortrag beendet hat und dessen Wirkung auf sie sehen möchte. Fast empört macht er sich auf die Suche nach ihr, zu guter Letzt auch noch im falschen Haus, ein Umstand, der ihm erschreckend spät auffällt, nämlich auf der Toilette im unvertraut wirkenden Badezimmer ihres vermeintlichen Zuhauses.
Dies ist eine gewitzte Einführung in eines der Hauptthemen dieses Romans – die Sprache. Hier als ungeeignetes Mittel männlicher Selbstprofilierung, in späteren Kapiteln als Mittel der Gewalt, der Verständigung und der politischen Rhetorik, die Inhalte nebensächlich werden lässt.
Ben Lerner, Sohn der bekannten feministischen Psychotherapeutin Harriet Lerner und vor allem als Lyriker bekannt, zeichnet in seinem dritten autofiktionalen Roman mit viel Selbstironie ein Bild der weißen US-amerikanischen Mittel- und Oberschicht in den 1990er Jahren, die er als Wegbereiter für die heutige politische Situation in den USA ausmacht. Zugleich erzählt er eine berührende Familiengeschichte, die Hoffnung auf positive Veränderungen erlaubt und bleibt sich dabei stets bewusst, dass er nur für einen bestimmten, privilegierten Teil der Gesellschaft sprechen kann, dem er selbst entstammt. Und das ist nur ein Aspekt dieses spannenden Buches, das man gerne gleich nochmal lesen würde und über das man sich unbedingt mit anderen austauschen möchte. Sehr lesenswert. Christine Mathioszek
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag
Aus dem Italienischen von Karin Diemerling
Rotpunkt Verlag
240 Seiten
€ 24,-
Aus dem Englischen von Frank Heibert
Verlag Hanser Berlin
288 Seiten
€ 22,-
216 Seiten
€ 20,-
Hanser Verlag
Mick und Gabriel kennen sich nicht und auf ersten Blick wirken sie grundverschieden. Aber sie sind Brüder, Halbbrüder. Ihr Vater, ein Austauschstudent aus Senegal, bleibt nicht. Er geht zurück, um sich erst vierzig Jahre später wieder zu melden.
Man liest begierig beider Geschichten, verfolgt ihren Weg bis zur Lebensmitte. Die Figuren gehen einem nah und werden zu Personen, die man näher kennenlernen möchte. Das ist nur eine der großen Stärken dieses Buches. Denn Thomae lässt auch Berlin wiederauferstehen, als es noch eine riesige Versuchsanordnung war, von vielen Glücksrittern bevölkert wurde und niemand etwas mit den Begriff Gentrifizierung anfangen konnte. Mick nämlich, ist einer dieser Glücksritter, zur richtigen Zeit (90er Jahre) am richtigen Ort (Berlin natürlich) lässt er sich durch sein Leben treiben, ohne Ziel aber mit viel Spaß dabei.
Gabriel dagegen arbeitet, sehr viel, irgendwann zu viel. Er macht eine beeindruckende Karriere in London und versucht sein Leben planvoll zu gestalten. Klar, dass das irgendwann schief geht, oder doch nicht?
Leichtfüßig und elegant geschrieben, dabei keine Klischees bedienend, ist hier eine Philanthropin am Werk, die ihr Handwerk versteht. Denn am Ende des Buches angelangt, zwickt es einem im Gemüt, da man Mick und Gabriel nun verlassen muss und man doch hofft, einen von ihnen an der nächsten Ecke zu treffen. hd
429 Seiten
€23,00
Dumont Verlag
Dieses Buch bleibt lange im Gedächtnis. Es ist eine Reise in die dunkelsten Gefilde der Seele.
Ein Mann, angetrieben vom Selbstmord seines Sohnes, driftet aus seinem saturiertem Dasein in eine existentielle Krise.
Die literarische Qualität des Textes ist hoch, Sæterbakkens Können offensichtlich. Der Text entfaltet eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann. Man begleitet den Protagonisten auf dieser Reise und wird dabei konfrontiert mit seinem Versagen, seiner Ehrlichkeit und seiner Selbstzerfleischung. Daneben erfährt man auch von den guten Zeiten und glücklichen Tagen, die mit einer solchen Zartheit und Grazilität erzählt werden, dass es einem fast das Herz zerreißt.
Es bleibt zu hoffen, dass auch die anderen Werke Sæterbakkens in Deutsche übertragen werden. hd
288 Seiten
€ 22,00
Aus dem Französischen von Frank Heibert
Suhrkamp Verlag
Queneau erzählt in „Zazie in der Metro“ die Geschichte einer rotzfrechen Göre aus der französischen Provinz, die von ihrer Mutter bei ihrem Onkel Gabriel in Paris abgeliefert wird, um sich ein Wochenende mit ihrem Liebhaber zu gönnen. Zazies einziger Wunsch ist es, mit der Metro zu fahren, die ausgerechnet an diesem Wochenende bestreikt wird. Aus Langeweile büxt sie aus und erkundet die Stadt auf eigene Faust. Dabei hat sie kuriose Begegnungen mit zahlreichen dubiosen und schrägen Charakteren. Wiedervereint mit ihrem Onkel machen er und sein Freund Charles eine Stadttour mit ihr, auf der Gabriel von einer begeisterten Touristengruppe entführt wird. Nun machen sich Zazie, Charles und zwei neue, aufgelesene Bekannte, auf die Suche nach ihm. Nach einem dramatischen Showdown am Ende des Buches und eines langen Tages verpasst Zazie die lang ersehnte Fahrt mit der Metro, da sie sie verschläft.
60 Jahre nach dem Erscheinen dieser nicht stringent erzählten, atemlosen Geschichte, die einem sprachlichen Feuerwerk gleicht, hat Frank Heibert eine neue Übersetzung vorgelegt. Einerseits geht er freier mit dem originalen Text um, indem er beispielsweise Namen verändert, andererseits zeigt er sich weniger zurückhaltend bei der Übersetzung von Kraftausdrücken und Umgangssprache als die erste deutsche Ausgabe aus dem Jahr 1960. Auch in der Übersetzung Eugen Helmés von 1960 bleibt der Roman noch heute modern, - Zazie ist und bleibt ein frappierend respektloses und wortgewandtes Mädchen, einige Charaktere wechseln ohne nähere Erklärung Persönlichkeit, Namen oder Geschlecht, - doch die Übersetzung Heiberts ist temporeicher, und der spürbare Spaß des Übersetzers an der Sprache an sich sowie an der surrealen Handlung überträgt sich auf den Leser und die Leserin.
Der Neuübersetzung des Romans sind zudem zwei Kapitel aus Queneaus Manuskripten hinzugefügt, in denen Zazie endlich zu ihrer Metrofahrt kommt. Diese Kapitel sind eine unterhaltsame Ergänzung und literaturwissenschaftlich interessant, da sie Einblick in die verworfenen Ideen Queneaus erlauben. Gleichzeitig zeigen sie auch, warum er sich gegen die Aufnahme der Kapitel entschieden haben mag, nicht nur, weil sie dem Titel den ironischen Witz genommen hätten.
Man kann es mit dem sprechenden Papagei Laverdure halten, der immer wieder kommentiert: „Du quatscht und quatscht, sonst hast du nichts zu bieten“. Das aber mit Bravour und unbändigem Spaß an der Sprache.
Christine Mathioszek
239 Seiten
€ 22,-
Luchterhand Verlag
Dieses Buch ist das schönste, bedeutendste, poetischste und bleibendste, was ich in diesem Frühjahr gelesen habe. Saša Stanišić, bezeichnet als der „Libero“ (Ijoma Mangold) der Deutschen Gegenwartsliteratur, schreibt über Herkunft (Jugoslawien), Vertreibung (Krieg), Heimat (Ist Sie eine Zeit oder ein Ort?), Ankommen (Heidelberg), Ausgrenzung (zu viele Häkchen im Namen), Aneignung (das erste Plusquamperfekt und die Sprache Hölderlins), Erinnerung (die eigene und die der Großmutter). Und das in einem so ausgewogen emotionalen wie reflektierten Stil, jegliches zarte Kitschaufkommen umschiffend und frei und lebendig erzählend, daß man sich nur freut, ja freut, wenn wieder einmal ein Satz so überraschend munter und doch tief durchdacht die wichtigsten Dinge des Lebens zusammenführt. Dieser Autor ist ein kluger und einfühlsamer Menschenfreund, ein präziser Beobachter und ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Wie schön, dass es solche Bücher gibt! Ob 14 oder 94, dieses Buch sollten alle lesen! Dieses Buch wird bleiben - und hoffentlich eines nicht so fernen Tages Kanon sein. Silke Grundmann
355 Seiten
22€
KOHLHAAS & COMPANY
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Literaturhaus Berlin
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